Impulse für eine neue Arbeits- und Konfliktkultur in Kirche und Gesellschaft
Wir sind endgültig in der Wissensgesellschaft angekommen. Arbeit wird zunehmend immateriell: Planen, organisieren, beraten, Wissen suchen und aufbereiten, Probleme durchdenken und lösen. Da der Einzelne die Informationsflut aber nicht mehr überblicken kann, sind wir zunehmend auf die Kompetenzen und Urteile anderer angewiesen. Das setzt Zusammenarbeit auf Augenhöhe, Konflikt- und Kooperationsbereitschaft voraus, stellt rein machtbewusste Hierarchien und statusorientierte Unternehmenskulturen in Frage und erfordert einen konstruktiven Umgang mit Konflikten im Ringen um bessere Lösungen.
Wir als Kirche sind Teil dieser Gesellschaft und von dieser Entwicklung genauso betroffen. Unterschiedliche Meinungen und Interessen prallen aufeinander, Konflikte und Auseinandersetzungen sind an der Tagesordnung, die Suche nach Perspektiven und das Ringen um Lösungen sind in vollem Gang – sei es um inhaltliche Positionen wie zu Ehe und Familie, Umwelt, Wirtschaft, Soziales oder dem Thema Eine Welt, sei es um organisatorische Fra- gen wie Seelsorgestrukturen oder das Zusammenwirken von Laien und Amtsträgern in der Kirche, um nur einige Beispiele zu nennen.
Wie gehen wir damit um? Können wir von den in der Wissensgesellschaft geforderten Grundhaltungen und Einstellungen lernen und profitieren? In der Gegenüberstellung von Wissensgesellschaft und Evangelium gewinnt die christliche Botschaft neu an Aktualität. Es werden ihr neue Chancen eröffnet – statt, wie Papst Franziskus in seiner neuen Enzyklika „Laudato Si‘“ warnt, wie „eine repetitive und abstrakte Botschaft“ zu wirken (Nr. 17). In Teil 3 werden einschlägige Passagen aus dem Neuen Testament und der Regel des Hl. Benedikt zitiert, die erstaunliche Parallelen zu den geforderten Grundhaltungen aufweisen.
Mit dieser Stellungnahme will das Landeskomitee der Katholiken in Bayern einen Beitrag zu einem konstruktiven Umgang mit unterschiedlichen Meinungen und Konflikten, zu dem, was gute Führung und Kommunikation ausmacht, ja zu einer neuen Arbeits- und Konfliktkultur in der Kirche leisten, die Vorbildcharakter für die Gesellschaft, Wirtschaft und Politik haben kann.
Dabei lassen wir uns leiten vom biblisch-christlichen Bild vom Menschen, wie es im Evangelium („Bei euch aber soll es nicht so sein“; Lk 22, 26) oder im Epheser-Brief („Die Sonne soll über Eurem Zorn nicht untergehen“; Eph 4, 26) beschrieben ist.
Dr. Albert Schmid, Vorsitzender des Landeskomitees
1. Strukturwandel durch die Wissensgesellschaft: Der sozioökonomische Hintergrund
Wir sind endgültig in der Wissensgesellschaft angekommen. In der Wissens- und Informationsgesellschaft hängt wirtschaftlicher Erfolg von der Kultur der Zusammenarbeit ab. Die Informationstechnik hat die Erfolgsmuster der bisher gewohnten Arbeit aufgelöst. Entscheidend ist nicht mehr, in kurzer Zeit eine möglichst große Menge eines Produkts herzustellen, sondern die ständige Weiterentwicklung von Produkten und als Voraussetzung dafür die effektive Analyse und Verarbeitung von Informationen. Deswegen haben die Unternehmen seit den 1990er Jahren flache Hierarchien eingeführt. Auch auf der Ebene der Fachkräfte ist Verantwortungsbewusstsein gefragt. Formale Bildung allein reicht nicht mehr, um Führungsaufgaben zu übernehmen. Das verändert die Stellung des Einzelnen.
Trotzdem werden viele Führungskräfte weiterhin für die Fehler ihrer Mitarbeiter verantwortlich gemacht. Deswegen funktionieren im Moment meist weder die alten noch die neuen Firmenstrukturen. Unruhe macht sich breit, aber es gibt kein Zurück: In der Informationsgesellschaft gehört das entscheidende Produktionsmittel nicht mehr der Firma, sondern den Mitarbeitern: Wissen, Erfahrung und Beziehungen.
Die nötige direkte Kommunikation erzwingt – neben einer weiterhin klaren Verantwortlichkeit – flexiblere Hierarchien, in denen der Einzelne das Gewicht bekommt, das den gerade tagesaktuell geforderten Kompetenzen entspricht. Doch die neuen Führungskräfte bekommen erst dadurch Luft für ihre eigentliche Aufgabe: Je höher jetzt jemand in der formalen Hierarchie aufsteigt, umso mehr ist es seine Aufgabe, Ressourcen und Informationsfluss zu moderieren, die Menschen mit ihren Stärken und Schwächen zu analysieren und passend einzusetzen.
Nur: Die Menschen der Industriegesellschaft sind dieselben geblieben. Sie ändern ihr eingefahrenes soziales Verhalten langsamer als die Betriebsorganisation samt offiziellen Spielregeln verändert wird. Dass sie mal wichtig und mal weniger wichtig sein sollen – damit tun sich die meisten schwer. Flache Hierarchien und Teamarbeit haben Zahl und Komplexität der Schnittstellen zwischen den Mitarbeitenden enorm vergrößert. Mobbing und innere Kündigung schädigen die Volkswirtschaft; Angst kostet etwa 75 Milliarden Euro.
Es mangelt noch an Verhaltensweisen, die den Wissensfortschritt fördern, anstatt ihn zu behindern. Wer Informationsarbeit nicht ausreichend effizient löst, der bekommt zunächst ein „Kostenproblem“ – und wird letztlich vom Markt verschwinden. Die Kultur entscheidet zunehmend den wirtschaftlichen Wettbewerb. In einer globalisierten Wirtschaft kann längst jeder überall Kapital aufnehmen, verfügt jeder per Internet schnell über alle Informationen und jedes Wissen, kann sich jeder auf einem freien Weltmarkt jede Maschine kaufen und seine Produkte weltweit vermarkten. Der entscheidende Standortfaktor wird die Fähigkeit der Menschen vor Ort sein, mit Information umzugehen – und das ist in der Regel Umgang mit anderen Wissensarbeitern, Projektpartnern, Kunden, Kollegen.
Um das gesamte Wissen in einer Organisation zu mobilisieren, wird sich eine dienende Führungskultur durchsetzen („Der Größte unter Euch sei der Diener aller“). Die Menschen werden schwankende Wichtigkeit nicht mehr als Beleidigung ihres Selbstwertes empfinden, ja sie werden sich gegenseitig fördern und sich über die Leistungen des Anderen freuen. Sie werden Informationen nicht nach Nützlichkeit manipulieren, sondern wahrhaftig weitergeben („dein Ja sei ein Ja“). Sie werden Konflikte fair klären und ihre Beziehungen versöhnen. Statt an ihrem Eigennutz werden sie sich langfristig und an den berechtigten Interessen der anderen Partner, Kunden, Lieferanten orientieren. Firmen werden in Weiterentwicklungen und in Menschen investieren und manchen Mitarbeitern Zeit geben, so zu reifen, dass sie die Firma bahnbrechend voranbringen.
Der größte Hemmschuh für eine Gesellschaft, die den Umgang mit Information verinnerlicht hat, liegt in der Kultur der Zusammenarbeit. Weltweit am weitesten verbreitet sind noch ein Sozialverhalten, eine Ethik, eine religiöse Weltanschauung, die auf die eigene Gruppe bezogen bleiben.
Der wirtschaftliche Wandel wird zu einem Ringen um das richtige, weil produktivere Ver- halten. Gleichzeitig breitet sich in den neu entwickelten Staaten ein kulturelles Phänomen aus: der Individualismus als Folge selbstverantwortlicher Informationsarbeit. Ohne Leitplanken wird Individualismus gesellschaftliche Verwerfungen erzeugen, die sich wirtschaftlich zunächst negativ auswirken werden, langfristig aber zum kooperativen Individualismus führen, also zur Universalethik. Denn nur wer sein Verhalten und seine Werte individuell reflektiert und verantwortet, kann die Balance zwischen den eigenen berechtigten Interessen und denen der Anderen finden.
Gefragt sind Vergebungsfähigkeit, konstruktiver Umgang mit Konflikten, Wertschätzung, Wahrhaftigkeit, Transparenz und Projektorientierung. Sie machen den Wettbewerbsunter- schied unter den Unternehmen und Organisationen aus und werden zu ihrem Alleinstel- lungsmerkmal. Diese Entwicklung kann Chancen eröffnen für die konkrete Umsetzung des Evangeliums in Kirche und Gesellschaft.
2. Herausforderungen und Chancen für die Kirche
Wir werden uns künftig auch in der Kirche mehr und konstruktiver auseinandersetzen. Dafür brauchen wir eine neue Kommunikations- und Konfliktkultur. Sie ist die Antwort auf den Umbau der Gemeinden und den Strukturwandel in der Wissensgesellschaft. Je komplexer Organisationen und das Leben werden, umso weniger funktionieren sie nach Befehl und Gehorsam, umso mehr Schnittstellen gibt es, umso mehr berechtigte Interessenskollisionen entstehen und umso mehr ringen Träger unterschiedlicher Kompetenzen um die bessere Lösung. Und nie waren mehr Planken und Regeln nötig, um sich konstruktiv auseinanderzusetzen: Vom Konflikt im Pfarrgemeinderat oder in Verbandsgremien, vom Konflikt zwischen Mitarbeitern in kirchlichen Sozialeinrichtungen bis hin zu Problemen mit Vorgesetzten.
Oft wird die Auseinandersetzung vermieden, weil viele den Aufwand und die möglichen Verletzungen scheuen oder fürchten, ausgeschlossen zu werden. So bleiben Konflikte unterschwellig weiter bestehen. Haupt- wie Ehrenamtliche kündigen innerlich, Gläubige ziehen sich zurück. Dabei ist dieses Verhalten weit von den Maßstäben des Evangeliums entfernt, das Christen und ihre Kirche in die Welt tragen wollen.
Papst Franziskus hat in seiner Weihnachtsansprache an die Kurie am 21. Dezember 2014 einige destruktive Verhaltensweisen beim Namen genannt: Die Krankheit der schlechten Absprache (5); die Krankheit der Rivalität und der Ruhmsucht (7); die Krankheit des Geschwätzes, des Gemurmels, des Tratschens (9); die Krankheit der Vergötterung der Vorgesetzten (10), anstatt vom Gesamtwohl und der Aufgabe her zu denken; die Krankheit der geschlossenen Kreise (14), wo die Zugehörigkeit zum Grüppchen stärker wird als die zu Christus selbst; und die Krankheit des weltlichen Profits, der Zurschaustellung (15), wenn der Apostel Christi seinen Dienst zur Macht umgestaltet und seine Macht zu einer Ware wird, um weltlichen Nutzen oder mehr Befugnisse zu erhalten.
Wer sich darüber freute, dass mit dem Papst endlich einmal jemand den Kurienmitarbeitern ins Gewissen geredet hätte, der hatte nicht registriert, dass Papst Franziskus alle meinte: „Diese Krankheiten und Versuchungen sind natürlich eine Gefahr für jeden Christen und jede Verwaltung, Gemeinschaft, Orden, Pfarrei und kirchliche Bewegung und können sowohl beim Einzelnen als auch in der Gemeinschaft vorkommen.“ Um sich von diesen „Krankheiten“ zu heilen, müssen sie zuerst erkannt werden, sagte Franziskus. Es sei eine Entscheidung des Einzelnen und der Gemeinschaft, daran geduldig zu arbeiten (vgl. Päpstliches Schreiben „Evangelii Gaudium“ vom 24. November 2013, Nummern 25-33).
Die Geschichte lehrt, dass die Mehrheit der Menschen träge ist und sich selten durch Einsicht verändert, sondern meist erst unter äußerem Druck. Seit 1990 hat sich die Zahl der Gottesdienstbesucher halbiert, die Zahl der Priester in Deutschland ging um ein Viertel zurück. Gehetzte Pfarrer geben ein schlechtes Bild nach außen ab und schrecken Interessenten davon ab, Priester zu werden. Da weniger Messen vor Ort stattfinden, gehen noch weniger Menschen in die Kirche, es gibt noch weniger persönliche Begegnung vor Ort, das Gemeindeleben wird noch unattraktiver. Die bisher Engagierten ziehen sich in ihren privaten Wohlfühl-Kreis zurück, die Volkskirche in der Fläche löst sich auf.
Dieser Umbruch lässt sich nicht gestalten, ohne Konflikte auszutragen. Die Umstrukturierungen stoßen aber auch eine Entwicklung an, die Chancen eröffnet, Festgefahrenes loszulassen und Neues zu beginnen, als Kirche durchzuatmen. Kirche ist nicht eine Institution der Hauptberuflichen und Priester, die dann die Getauften für weitere Aufgaben heranziehen. Sie ist in Christus das Sakrament, das sein Leben und seine Hingabe gegenwärtig macht. Diese Hingabe und Sendung des gesamten Volkes Gottes ist gemeint, wenn vom gemeinsamen Priestertum aller Getauften die Rede ist (vgl. Dogmatische Konstitution „Lumen Gentium“ des II. Vatikanischen Konzils vom 21. November 1964, Nr. 10). Keiner kann allein den Weg des Glaubens gehen. Keiner kann ohne seine wirkliche Einbeziehung in die Gemeinschaft mit anderen seine Charismen entdecken und entfalten.
Wenn der Sinn des Lebens ist, Gemeinschaft mit Gott zu finden, und dies in der Gemeinschaft als Kirche und Gemeinde, dann ist die Gestaltung der Gemeinschaft zentrale Aufgabe auf dem Weg zu Gott. Die gestaltet sich nicht nur wegen der unterschiedlichen Gaben als schwierig; Prägungen und Vorurteile filtern die Wahrnehmung des Menschen. Wer mit anderen zusammenarbeitet, muss mit ihnen gemeinsame Ziele abgleichen, die Motivation für bestimmte Entscheidungen offenlegen und ständig neu über sein Tun reflektieren
(vgl. Pastorale Konstitution „Gaudium et Spes“ über die Kirche in der Welt von heute vom 7. Dezember 1965, Nr. 92).
Zu einer neuen Kultur der Zusammenarbeit und Konfliktbewältigung hat das II. Vatikanische Konzil in „Gaudium et Spes“ (Nr. 92) aufgerufen: „Das aber verlangt von uns, dass wir vor allem in der Kirche selbst, bei Anerkennung aller rechtmäßigen Verschiedenheit, gegenseitige Hochachtung, Ehrfurcht und Eintracht pflegen, um ein immer fruchtbareres Gespräch zwischen allen in Gang zu bringen, die das eine Volk Gottes bilden, Geistliche und Laien. Stärker ist, was die Gläubigen eint als was sie trennt. Es gelte im Notwendigen Einheit, im Zweifel Freiheit, in allem die Liebe“.
Die Menschen möchten immer weniger für vorgegebene Aufgabenfelder angeworben und ehrenamtlich eingesetzt werden, sie wollen umgekehrt ihre persönlichen Gaben entdecken, einbringen und entfalten. Doch diese Gaben variieren von Gemeinde zu Gemeinde und lassen sich in kein Korsett schnüren, so dass das Zusammenwirken ständig neu verhandelt wird. Auch übernehmen Laien eine neue Rolle bei der Glaubensweitergabe (vgl. zum Anteil der Laien an der Sendung der Kirche Dekret über das Laienapostolat „Apostolicam Actuositatem“ des II. Vatikanischen Konzils vom 18. November 1965, so etwa Nr. 2).
Die Lebendigkeit einer Gemeinde und das erfolgreiche Wirken hängen dann von der Teamfähigkeit aller im Pastoralteam ab. Dabei helfen Leitplanken der Konfliktkultur. Ursache für Konflikte sind nicht selten Machtvakuum und unklare Zuständigkeit. Wir brauchen auch in den kleinen Filialkirchen, zu denen der Pfarrer nur noch selten kommt, einen Hauptansprechpartner pro Gemeinde, das „Gesicht“ der Kirche vor Ort. Neu ist, dass die Entscheidungen breiter diskutiert werden; Teammitglieder müssen sie mittragen, dürfen und sollen sie aber immer hinterfragen, um zu prüfen, ob sie noch die richtigen Entscheidungen sind.
Millionenfacher als bei Erfindung der Druckerpresse bringen das Internet, insbesondere die sozialen Netzwerke, Pluralität und unterschiedliche Meinungen auch zu Glaubensinhalten unter die Gläubigen. Es wird schwieriger, das Glaubenswissen zu überblicken. In den Gemeinden sind vielfach theologische Positionen bekannt, die sich unterscheiden von denen des Lehramts. Ideengut anderer Religionen vermischt sich in der Vorstellungswelt normaler Gottesdienstbesucher.
Wenn eine Organisation nicht ein Mindestmaß an Abweichung zulässt, fängt sie an, auszuschließen und den Kreis der Anhänger immer weiter zu verkleinern. Beides – mehr mögliche Abweichungen ohne Sanktionen und starke inhaltliche Führung des Bischofs – bedingen einander. Wie der Bischof theologische Fragen und Glaubensfragen aus kirchlicher Sicht klarstellt, ist nicht allein eine Frage der neuen technischen Kommunikationsmittel – der Firmling kommentiert seine Predigt in Echtzeit auf Facebook von seinem Smartphone aus. Es ist eine Frage der Diskussionskultur. Diese bildet sich nicht im luftleeren Raum, sondern kommt aus dem Wandel der Arbeitswelt.
Dieselben Menschen, die in der Gemeinde mitwirken, haben einen Berufsalltag, in dem sie ebenso Verantwortung übernehmen und jeden Tag aufs Neue Konfrontationen aushalten müssen. Der ökonomische Druck zwingt die Unternehmen zu einer kooperativen Konfliktkultur, die sich auch in der Kirche widerspiegeln wird und den Kern des Evangeliums in den Mittelpunkt der sozioökonomischen Auseinandersetzung rückt (vgl. Dogmatische Konstitution „Lumen Gentium“ des II. Vatikanischen Konzils vom 21. November 1964, Nummern 30- 38).
3. Leitlinien für eine neue Kultur der Auseinandersetzung und Konfliktlösung in der Kirche
Es wird also in Zukunft in Unternehmen, Behörden und Kirche immer wichtiger werden, wie wir miteinander umgehen, Konflikte lösen und Wissen teilen. Darin liegen neue Chancen, das Evangelium und seine Bedeutung für das tägliche Leben wieder stärker in die öffentli- che Wahrnehmung zu bringen. Hier sind gerade wir als Christen gefragt zu zeigen, dass unser Glaube auch konkrete Auswirkungen auf unser Leben und Handeln im Alltag hat.
Ausgewählte Botschaften aus dem Neuen Testament (a) und Abschnitte aus der Regel des Hl. Benedikt (b) sollen Anregungen liefern, das Zusammenleben und Zusammenarbeiten im Sinn Jesu Christi zu gestalten, Konflikte und zwischenmenschliche Probleme anzugehen sowie die gegenseitige Wertschätzung und Einbindung verschiedener Begabungen zu forcieren. Sie werden ergänzt um Hinweise auf die noch anstehende Agenda (c). Folgende Schwerpunkte halten wir für zielführend, um Konflikte verstehen und lösen zu können:
(1) Gute Führung und konstruktive Zusammenarbeit müssen wie zwei Seiten einer Medaille das Bild der Kirche nach innen und außen prägen.
a) Versöhnungsbereitschaft und Ehrlichkeit
Mt 5, 23-24: Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe.
Mt 5, 37: Euer Ja sei ein Ja, euer Nein ein Nein, alles andere stammt vom Bösen.
b) Gegenseitige Ergänzung und Wertschätzung
– Sie sollen einander in gegenseitiger Achtung zuvorkommen (vgl. RB 72,4).
– Das Haus Gottes soll von Weisen auch weise verwaltet werden. (RB 53,22b)
– Der Abt soll also alle in gleicher Weise lieben, ein und dieselbe Ordnung lasse er
für alle gelten wie es jeder verdient. (RB 2,22)
c) In der Praxis existiert oft eine unklare Führung, die die vorhandenen Kräfte nicht bündelt; eine intransparente Führung, die Entscheidungen nicht erklärt; eine einsame Führung, die die Sichtweisen der Mitarbeitenden nicht einbezieht.
(2) Sowohl der Strukturwandel in der Wissensgesellschaft als auch die charismatische Dimension der Kirche bedingen eine hohe Verantwortung des Einzelnen zum Wohl und Gelingen des Ganzen. Jeder Christ ist unverzichtbarer Träger (s)eines Charismas, von Kompetenz, Wissen, Erfahrungen und Beziehungen. Darin begründen sich Führungs- stärke und –verantwortung des Einzelnen.
a) Talente erkennen und schätzen
1 Kor 12, 4-7.11: Es gibt verschiedene Gnadengaben, aber nur den einen Geist. Es gibt verschiedene Dienste, aber nur den einen Herrn. Es gibt verschiedene Kräfte, die wirken, aber nur den einen Gott. Er bewirkt alles in allen. Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt. Das alles bewirkt ein und derselbe Geist; einem jeden teilt er seine besondere Gabe zu, wie er will.
b)
c)
(3)
a)
b)
c)
(4)
a)
Verantwortungrichtigwahrnehmen
Der Abt muss wissen, welch schwierige und mühevolle Aufgabe er auf sich nimmt: Menschen zu führen und der Eigenart vieler zu dienen. Nach der Eigenart und Fas- sungskraft jedes einzelnen soll er sich auf alle einstellen und auf sie eingehen (vgl. RB 2,31-32).
In der Praxis kommt es vor, dass Einzelne ihre Verantwortung nach oben abgeben oder Führungskräfte die besonderen Charismen des Einzelnen nicht wahrnehmen und auch nicht fördern.
Sendungsauftrag und Problemlösung in der Kirche sind vorrangig im Team zu leisten – partnerschaftlich, sachlich, ziel- und lösungsorientiert. Statusdenken, Eigennutz, Gruppenegoismus und Seilschaften haben keinen Platz mehr.
DerSendungsauftragJesualsGemeinschaftsauftrag
Mt 7, 12: Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin be- steht das Gesetz und die Propheten.
Lk 9, 1-2.6: Dann rief er die Zwölf zu sich und gab ihnen die Kraft und Vollmacht, alle Dämonen auszutreiben und die Kranken gesund zu machen. Und er sandte sie aus mit dem Auftrag, das Reich Gottes zu verkünden und zu heilen. Die Zwölf machten sich auf den Weg und wanderten von Dorf zu Dorf. Sie verkündigten das Evangelium und heilten überall die Kranken.
Zusammenarbeitfördern
– Dass aber alle zur Beratung zu rufen seien, haben wir deshalb gesagt, weil der
Herr oft einem Jüngeren offenbart, was das Bessere ist. (RB 3,3)
– Tu alles mit Rat, dann brauchst du nach der Tat nichts zu bereuen. (RB 3,13)
– Sie sollen nicht anmaßend und hartnäckig ihre eigenen Ansichten verteidigen
(vgl. RB 3,4).
– Bewahre deine Zunge vor Bösem und deine Lippen vor falscher Rede! Meide das
Böse und tu das Gute, suche den Frieden und jage ihm nach (vgl. RB Prolog 17).
Als gängige Praxis erleben wir oft Machtkämpfe zur Unter- oder Überordnung, Ent- scheidungen nach persönlichen Beziehungen oder Nutzen und das Verabsolutieren einer bestimmten Richtung.
Das Gespräch über unterschiedliche Ansichten beinhaltet Wertschätzung des Ande- ren, Wahrhaftigkeit, Transparenz, Vergebungsbereitschaft und den Blick für das Ganze bei allen Beteiligten.
JesuAppellzuLiebe,BarmherzigkeitundVergebung
Mt 5, 43-45: Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lie- ben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Ge- rechte und Ungerechte.
Mt 7, 3: Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht?
Mt 9, 13a: Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich und nicht Opfer.

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Mt 18, 15-17: Wenn dein Bruder sündigt, dann geh hin zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen. Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei Männer mit, denn jede Sa- che muss durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werden. Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die Ge- meinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner.
Mt 18, 21-22: Da trat Petrus zu ihm und fragte: Herr, wie oft muss ich meinem Bruder vergeben, wenn er sich gegen mich versündigt? Siebenmal? Jesus sagte zu ihm: Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.
Lk 6, 36: Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist!
b) EhrlichkeitundWahrhaftigkeit
– Keine Arglist im Herzen tragen (RB 4,24)
– Und keinem anderen antun, was man selbst nicht erleiden möchte. (RB 4,9)
– Seinen Mund vor bösem und verkehrtem Reden hüten. (RB 4,51)
– Den Zorn nicht zur Tat werden lassen. Der Rachsucht nicht einen Augenblick
nachgeben. (RB 4, 22-23)
– Bei einem Streit mit jemandem noch vor Sonnenuntergang in den Frieden zu-
rückkehren. (RB 4,73)
– Streit nicht lieben. Überheblichkeit fliehen. (RB 4, 68-69)
– Werde er nach der Weisung unseres Herrn einmal und ein zweites Mal im gehei-
men von seinen Vorgesetzten ermahnt. Wenn er sich nicht bessert, werde er öf- fentlich vor allen zurechtgewiesen. (RB 23,2-3)
c) Oft genutzte unfaire Mittel, um sich, seinem Anliegen oder seiner Gruppe Vorteile zu verschaffen, sind: Andere in ihrer Kompetenz in Frage stellen, sie schwächen, zur Verteidigung zwingen, mit unvollständigen Fakten eine falsche Sicht auf die Wirklichkeit erzeugen, eigene Anliegen verschleiern oder Fehler neu aufwärmen.
(5) Auch Zusammenarbeit braucht gute Führung. Beide bedingen einander und haben ein gemeinsames Ziel: die Erfüllung des Sendungsauftrages Jesu Christi in der Welt von heute.
a) ZieldergutenFührung
Mt 7, 15-16a: Hütet euch vor den falschen Propheten; sie kommen zu euch wie Schafe, in Wirklichkeit aber sind sie wie reißende Wölfe. An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.
Lk 12, 42-44: Der Herr antwortete: Wer ist denn der treue und kluge Verwalter, den der Herr einsetzen wird, damit er seinem Gesinde zur rechten Zeit die Nah- rung zuteilt? Selig der Knecht, den der Herr damit beschäftigt findet, wenn er kommt. Wahrhaftig, das sage ich euch: Er wird ihn zum Verwalter seines ganzen Vermögens machen.
Lk 22, 24-26: Es entstand unter ihnen ein Streit darüber, wer von ihnen wohl der Größte sei. Da sagte Jesus: Die Könige herrschen über ihre Völker, und die Mächti- gen lassen sich Wohltäter nennen. Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern der Größte unter euch soll werden wie der Kleinste, und der Führende soll werden wie der Dienende.

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b) MutzuklarenEntscheidungen
– Er (sc. der Abt) soll den Rat der Brüder anhören und dann mit sich selbst zu Rate
gehen (vgl. RB 3,2).
– Er muss wissen, dass er sich ohne Zweifel für all seine Entscheidungen vor Gott,
dem gerechten Richter, zu verantworten hat (vgl. RB 3,11).
– Er lasse sich vom Gespür für den rechten Augenblick leiten und verbinde Strenge
mit gutem Zureden (vgl. RB 2,24).
– Mit größter Sorge muss der Abt sich um die Brüder kümmern, die sich verfehlen,
denn nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. (RB 27,1)
c) In der Praxis werden häufig „Führung“ und „Zusammenarbeit“ gegeneinander aus- gespielt oder jeweils verabsolutiert. Zwar sollen möglichst viele an Entscheidungen beteiligt werden. Aber nach getroffener Entscheidung sollen alle diese Entschei- dung mittragen. Dem Sendungsauftrag der Kirche kann nur eine dienende Führungs- kultur gerecht werden, also eine Führung, die sich versteht auf das Motivieren, In- spirieren, Fördern, Ermöglichen, Moderieren und Netzwerken.
(6) Sowohl der Strukturwandel in der Wissensgesellschaft als auch das Evangelium ver- langen das Aufgeben bislang vorherrschender gruppenethischer Verhaltensweisen und die Einübung universalethischer Einstellungen und Handlungsweisen.
(7)
a) FroheBotschaftfüralle
Lk 2, 30-32: Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet und Herrlichkeit für dein Volk Israel.
Joh 1, 12: Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben.
Joh 10, 16: Ich habe noch andere Schafe, die nicht aus diesem Stall sind, auch sie muss ich führen, und sie werden auf meine Stimme hören; dann wird es nur eine Herde geben und einen Hirten.
Joh 12, 46: Ich bin das Licht, das in die Welt gekommen ist, damit jeder, der an mich glaubt, nicht in der Finsternis bleibt.
Mt 28, 19a: Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu meinen Jüngern.
b) DiesesOffenseinfürAnderespiegeltsichinderBenedikt-Regelu.a.durchdiehohe Wertschätzung der Gastfreundschaft wider, die jede Begegnung als Chance sieht, Christus zu begegnen (vgl. RB Kapitel 53). Und sie zeigt sich auch in der in vielerlei Variationen enthaltenen Forderung „alle Menschen zu ehren“ (vgl. RB 4,8).
c) InderPraxisversuchenAmtsträgerbisweilen,dieAufklärungvonMissständenzu verhindern, weil eigenes Ansehen und Autorität höher eingestuft werden als das Leid der Opfer oder als Gerechtigkeit.
Eine Arbeits-, Konflikt- und Führungskultur auf der Grundlage dieser Leitlinien macht den Sendungsauftrag der Kirche wesentlich glaubhafter und effizienter und wirkt gleichzeitig als Modell in die Welt und Gesellschaft von heute hinein.

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a) GlaubhaftigkeitundÜberzeugungskraft
Mt 5, 16: So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.
Mt 7, 16a: An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen.
Mt 7, 21: Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kom- men, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt.
Mt 25, 40b: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
b) ChristusimBruderzubegegnenundentsprechendzuhandeln,istzentralerAuftrag Jesu und zieht sich auch als roter Faden durch die Benedikt-Regel, damit wir „Got- tes Weisungen täglich durch die Tat erfüllen“ (vgl. RB 4,63).
c) Auf die Praxis angewandt, könnte modellhaftes Handeln der Kirche und der kirchli- chen Einrichtungen gerade als Arbeitgeber sich darin erweisen, dass der Gedanke der Dienstgemeinschaft wirklich gelebt wird. Dieser beruht auf dem Grundsatz einer vertrauensvollen Zusammenarbeit zwischen Dienstgebern und Dienstnehmern: Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sollen den Dienst in der Kirche mitgestalten und mitverantworten, im Sinn einer aktiven Teilhabe.
Literatur- und Medienhinweise
– Eine aktuelle Ausgabe der Regel des Heiligen Benedikt (RB) ist zu finden auf:
www.benediktiner.de/index.php/die-ordensregel-des-hl-benedikt.html.
– Für die Zitate aus der Heiligen Schrift wurde die deutsche Einheitsübersetzung von 1980 verwen-
det, © Katholische Bibelanstalt GmbH Stuttgart (verschiedene Ausgaben und Verlage).
– Für die Zitate aus den Konzilstexten wurde das „Kleine Konzilskompendium“, herausgegeben von Karl Rahner und Herbert Vorgrimler, Freiburg (Herder-Verlag), 16. Auflage 1982 (und öfter) ver- wendet.
– Studientag „Gemeinsam Kirche sein. Das Zueinander der Dienste und Charismen im priesterlichen Gottesvolk“, Pressekonferenz über die Herbstvollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 26. September 2014 in Würzburg; mehr Informationen auf www.dbk.de (Presse/Archiv); ab- gerufen im Juni 2015
– „Die Chefs der alten Schule haben ausgedient“, Süddeutsche Zeitung vom 31.12.2011/1.1.2012, S. 25.
– Erik Händeler: Das Optimum der Kirche liegt in der Zukunft. In: „Zur Debatte“ Nr. 1/2011, S. 34 – 36.
– Erik Händeler: Die Geschichte der Zukunft. Sozialverhalten heute und der Wohlstand von mor- gen. Brendow-Verlag, Moers, 10. Auflage 2015.
Vom Präsidium des Landeskomitees der Katholiken in Bayern mit Wirkung vom 5. Februar 2016 einstimmig beschlossen.
Der Text basiert auf einem Projekt des Sachausschusses „Arbeit – Wirtschaft – Umwelt“ des Landeskomitees, das im Juni 2013 unter dem Vorsitz von Dr. Franz Prast begann. An der Erar- beitung und redaktionellen Überarbeitung waren außerdem beteiligt:
Erik Händeler, Dr. Angelika Schaller, Dr. Karl Eder und Gisela Häfele.