Bayern soll in guter Verfassung bleiben
Als vor hundert Jahren am 14. August 1919 der Bayerische Landtag die erste Verfassung des neuen, demokratischen Freistaates Bayern verabschiedete, tagte er in Bamberg. Die politischen Unruhen zu dieser Zeit ließen eine geordnete Beratung in München nicht zu; wenige Monate zuvor war Ministerpräsident Kurt Eisner auf offener Straße ermordet worden. Der Landtag wich nach Bamberg aus und konnte in den so genannten Harmoniesälen den Grundstein für die Verfassungsgeschichte des demokratischen Bayern legen.
Die Vollversammlung des Landeskomitees der Katholiken in Bayern ist sich dieser historischen Bedeutung nicht nur deshalb bewusst, weil es auch in diesen Räumen tagen konnte, sondern vor allem, weil gerade der Blick in die Geschichte deutlich macht, wie existenziell und gleichzeitig gefährdet der politische Frieden und der gesellschaftliche Zusammenhalt sind. Nationalistisches und egoistisches Denken können zu Ausgrenzung, Machtmissbrauch, Korruption und letztlich zur Zersplitterung einer Gesellschaft führen.
Damals wie heute sollten wir uns solcher Gefährdungen bewusst sein, um den Wert eines demokratisch, freiheitlich, gerecht und solidarisch ausgerichteten Staates schätzen zu können. „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist.“[1] So lautet das bekannte Diktum des früheren Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde, der damit zweifellos auch auf die prägende Kraft des Christentums Bezug nahm.
Die Prinzipien des modernen Sozial- und Rechtsstaates basieren nicht zuletzt auf dem biblisch-christlichen Bild vom Menschen. Obwohl die katholische Kirche lange Zeit ein recht wechselhaftes Verhältnis zur Demokratie pflegte und sich mit der Eigenverantwortung der Menschen sowie mit dem gesellschaftlichen Pluralismus zum Teil bis heute schwertut, zählen seit ihren Anfängen Personalität – und damit persönliche Freiheit, Subsidiarität – und damit Selbstbestimmungsrecht, Solidarität – und damit Hilfsbereitschaft, Gerechtigkeit – und damit Sinn für Fairness, Partizipation – und damit echte Teilhabe sowie Nachhaltigkeit – und damit Verantwortung für die Schöpfung zu ihrer Grundausstattung. Gerade der Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt, wie wertvoll die regelmäßige Selbstvergewisserung über diese Wurzeln sein kann. Das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit stellt für die katholische Kirche angesichts der fehlenden Verwaltungsgerichtsbarkeit, für die wir uns als Landeskomitee der Katholiken in Bayern nachdrücklich einsetzen, bis heute eine bleibende Herausforderung dar – trotz vorhandener kirchenrechtlicher Strukturen.
Auch wenn die Kirche sich selbst nicht als demokratisches Gebilde definiert, ist sie unverzichtbar auf das Engagement von Verbänden, Organisationen und Gemeinschaften, aber ebenso auch von vielen Einzelnen, von Ehren- wie Hauptamtlichen angewiesen. Umso mehr hängt die Lebensfähigkeit einer freiheitlichen, demokratisch strukturierten Gesellschaft von diesem Engagement ab. Staat, Politik, Gesellschaft und Wirtschaft brauchen die freie Entfaltungs-, Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeit der Menschen, ebenso aber auch gegenseitigen Respekt, Toleranz und Offenheit, um wirtschaftliche Stabilität, sozialen Frieden und ein glückendes Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen. Befinden sich die eigene Leidenschaft und Selbstreflexion in einer guten Balance, wird der Blick auf die Nöte und Bedürfnisse der Anderen nicht verstellt.
So entsteht lebendige Demokratie. Religiös gebildete Menschen leisten für sie unverzichtbare Beiträge, indem sie Impulse zu den grundlegenden Fragen nach dem Sinn des Lebens, aber auch bei den alltäglichen Herausforderungen in Familie, Staat und Gesellschaft setzen. Beispielhaft weisen wir auf Charakteristika religiöser Bildung hin, die zu einem Mehrwert für unsere Demokratie und unser Gemeinwesen führen können:
- Positionalität
Religiöse Bildung will den Menschen zu einer eigenständigen weltanschaulichen Überzeugung befähigen, welche die Kompetenz zum Dialog einschließt. - Glaubwürdigkeit
Nur wer Positionen lebt und argumentativ vertritt, ist auch glaubwürdig und authentisch. Aus religiöser Bildung kann so verantwortliches Handeln in Kirche, Staat und Gesellschaft entstehen. - Vertrauen
Religiöse Bildung zielt darauf ab, Hoffnung zu begründen. Sie setzt damit ein Zeichen gegen diffuse Ängste und Hoffnungslosigkeit in unserer Gesellschaft. Diese Hoffnung befähigt Menschen dazu, sich auch in scheinbar ausweglosen Situationen für Solidarität und Gerechtigkeit einzusetzen und sie wird greifbar im Vertrauen auf die Hilfe Gottes, von der jeder Mensch profitieren kann.
So wie sich christliche Hoffnung nicht nur auf das Jenseits bezieht, wird auch das Handeln von christlich motivierten Menschen täglich in deren Nahbereich bis hin zu staatlichen Gremien und Organen spürbar.
Dieser Einsatz für eine schätzens- und schützenswerte Demokratie ist angesichts aktuell steigender Gefährdungen durch Egoismus, Nationalismus, Extremismus bis hin zum Terrorismus jeder Anstrengung wert. Gerade die Erfahrungen der jungen Demokratie in Bayern nach den beiden Weltkriegen zeigen, dass eine Gesellschaft dann zur Integration unterschiedlicher Menschen und Weltanschauungen fähig ist und sich auch weiterentwickelt, wenn sie aus einer soliden Werteorientierung heraus offen bleibt für neue Ideen und Entwicklungen.
Die Bayerische Verfassung von heute zeigt zentrale Ziele auf, die wir mit unserem gesellschaftspolitischen, christlich motivierten Einsatz einfordern und erreichen können. Sie ist Ausdruck eines gesunden Föderalismus, sie bietet eine enorme Zahl an plebiszitären Mitbestimmungsmöglichkeiten, sie tritt nicht nur für die Vermittlung von Sachwissen, sondern auch für Herzens-, Charakter- und Familienbildung ein, sie animiert zu einem wirtschaftlichen Handeln, das auf den christlichen Sozialstaatsprinzipien aufbaut, und sie formuliert Richtlinien für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Schöpfung.
Wenn uns die Verfassung des jungen Freistaates Bayern vom August 1919 eines lehrt, dann das: der Mut und das Vertrauen in die Kraft einer gemeinsamen Grundüberzeugung können Angst und Zersplitterung überwinden. Als Landeskomitee der Katholiken in Bayern wollen wir unseren Beitrag dazu leisten, damit Bayern auch künftig in guter Verfassung bleibt.
Von der Vollversammlung des Landeskomitees der Katholiken in Bayern
am 16. November 2019 in Bamberg einstimmig beschlossen.
Hier finden Sie die zugehörige Pressemitteilung.
[1] Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit. Berlin 1976, S. 60
Titelbild: FF Cucuina Liz Collet / Adobe Stock
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