Gesundheit ist mehr als die Abwesenheit von Krankheit. Bereits 1948 definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Präambel ihrer Verfassung: Gesundheit ist der Zustand des umfassenden körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens (well-being) und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen. Im Anschluss daran beschreibt die WHO einen bestmöglichen Gesundheitszustand als Grundrecht jedes Menschen, ohne Unterscheidung von ethnischer Zugehörigkeit, religiöser oder politischer Überzeugung sowie der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung. Die Konferenz der WHO zur Gesundheitsförderung verabschiedete 1986 in Ottawa eine Charta, in der sie die Mitgliedsstaaten zu aktivem Handeln für das Ziel einer „Gesundheit für alle“ aufruft. Fragen des öffentlichen Gesundheitsschutzes wie Luftverschmutzung, Gefährdungen am Arbeitsplatz sowie Wohn- und Raumplanung sollten in den Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit gestellt werden, um so ein politisches Engagement für Gesundheit und Chancengleichheit in allen Bereichen zu erreichen.
Die Menschen werden selbst als Verantwortliche ihrer Gesundheit gesehen, die es zu unterstützen und auch finanziell zu befähigen gilt, sich selbst, ihre Familien und Freunde gesund zu erhalten. Es wird eine Neuorientierung hin zur Gesundheitsförderung und ein Zusammenwirken der Gesundheitsdienste mit anderen Sektoren und mit der Bevölkerung angestrebt. Die Gesundheit und ihre Erhaltung werden als wichtige gesellschaftliche Investition betrachtet, insbesondere mit Blick auf die „globale ökologische Frage unserer Lebensweisen“. Das Landeskomitee der Katholiken in Bayern schließt sich der Definition der WHO an, zumal sie über das biomedizinische Verständnis von Gesundheit hinausgeht und wesentliche Aspekte eines umfassenden Gesundheitswesens nach den Prinzipien der katholischen Soziallehre aufgreift. Die Gesundheit ist für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen entscheidend.
Gesunde Strukturen
Gerade angesichts der Coronapandemie ist deutlich geworden, wie wichtig der Wert eines funktionierenden Gesundheitswesens ist, das den Menschen nicht nur den Zugang zur Gesundheitsversorgung garantiert, sondern auch den gesundheitlichen Schutz der Bevölkerung mit den Ansprüchen und Freiheitsrechten jedes Menschen in Einklang bringt.
In der Folge stellen sich etliche Fragen mit Blick auf gerechte Strukturen des Gesundheitswesens:
- Wie lässt sich sicherstellen, dass alle Bevölkerungs- und Altersgruppen sowie alle Einkommensschichten weiterhin und umfassend gesundheitsbezogene Leistungen in Anspruch nehmen können?
- Wie kann eine älter werdende Bevölkerung in den Strukturen der Pflege- und Gesundheitsversorgung in Stadt und Land besser berücksichtigt werden?
- Welche Zuzahlungen für privat abzurechnende Leistungen sind zumutbar, ohne eine Zwei-Klassen-Medizin strukturell zu verstärken?
- Wie kann auch in Zukunft eine wohnortnahe Gesundheitsversorgung sichergestellt werden?
Die Coronapandemie hat deutlich gemacht, dass nicht nur für die allgemeine und alltägliche Gesundheitsversorgung, sondern gerade auch zur Bewältigung einer Pandemie eine dezentrale Versorgungsstruktur hilfreich sein kann. Sie bietet eine nicht zu unterschätzende Sicherheit für die Menschen, gesundheitsbezogene Leistungen in der ambulanten wie in der stationären Versorgung wohnortnah zu erhalten und in erreichbarer Nähe der Angehörigen bleiben zu können. Versorgungsengpässe tauchen im Bereich bestimmter fachärztlicher und psychiatrischer Dienste, beispielsweise aber auch bei der Verfügbarkeit von Hebammen auf. Davon ist mitunter auch das urbane Umfeld betroffen. Im ländlichen Raum bereiten zudem mangelhafte Strukturen des öffentlichen Personennahverkehrs zusätzliche Probleme bei der Erreichbarkeit von Diensten des Gesundheitssystems.
Es muss sichergestellt werden, dass Krankenhäuser und Arztpraxen strukturell in die Lage versetzt werden, eine allgemeine und akute medizinische Versorgung der Bevölkerung wohnortnah zu gewährleisten. Im Einzelfall kann dies bedeuten, dass unter Beachtung von Synergieeffekten stationäre und ambulante Therapieplätze an Behandlungs- oder Gesundheitszentren fachlich gebündelt werden. Es darf in Bayern hinsichtlich der Klinikstandorte keine unterversorgten Gebiete geben. Dazu muss die bewährte Form der Krankenhausplanung aufrecht erhalten bleiben.
Bei den Arzt-, Pflege-, Rettungs- und Entbindungsdiensten geht es uns um die bessere Vereinbarkeit der Dienstzeiten mit den persönlichen und familiären Belangen. Der finanzielle Ausgleich von Überstunden ist dabei nicht immer die ideale Lösung, da viele Beschäftigte die ihnen zustehende Freizeit für Erholung oder für private Interessen nutzen möchten. Gerade diese Dienste sollten vorbildlich sein, wenn es darum geht, die eigene Lebensführung im Sinn einer guten Work-Life-Balance an gesundheitlich förderlichen Kriterien auszurichten. Dazu wird das Landeskomitee demnächst eine Initiative für eine bessere Wertschätzung sozialer Berufe starten.
In bestimmten Bereichen gibt es zudem Optimierungsbedarf in den Gehalts- und Kostenstrukturen, gerade wenn es um nicht tarifgebundene Gehälter und um hohe Zusatzkosten für Versicherungen geht. Es darf nicht einfach tatenlos zugesehen werden, wenn Pflegefachpersonen in ihrem Beruf zunehmend frustriert sind. Demotivierende Strukturen und Arbeitszeiten, aber auch überbordender Bürokratismus führen zur inneren Entfremdung und am Ende dazu, dass sich Beschäftigte aus ihrem Beruf zurückziehen. Wenn sich hier keine nachhaltigen Verbesserungen erzielen lassen, wird es schwierig werden, Arzt-, Pflege-, Rettungs- und Entbindungsdienste nachhaltig attraktiv zu gestalten und das vorhandene Interesse junger Menschen an diesen Berufen nicht zu enttäuschen. Die sich bietenden Optimierungsmöglichkeiten an den Schnittstellen unterschiedlicher Finanzierungsleistungen sollten genutzt werden, um die Care-Arbeit gesellschaftlich besser wertzuschätzen.
Die Forschung im Gesundheitswesen ist unentbehrlich und verlangt neben Erfindergeist auch Expertise und damit hohen personellen wie technischen Einsatz. Jüngst hat die Coronapandemie dies eindrücklich vor Augen geführt. Wenn der wissenschaftliche Fortschritt die gesundheitliche Versorgung zu einem wesentlichen Faktor der Volkswirtschaft werden lässt, kann Deutschland zu einem „healthy country“ avancieren. Forschung, Versorgung und Therapie im Gesundheitswesen müssen Hand in Hand gehen, um Spitzenniveau zu erreichen. Hierzu muss die öffentliche Hand einen wesentlichen Anteil erbringen, um in Forschung und Therapie nicht größtenteils von Industrie, Lobbygruppen oder privaten Gesundheitsdienstleistern abhängig zu sein.
Gesunde Finanzen
Das Gesundheitswesen als wesentlicher Teil der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland hat zuerst die Aufgabe, die Gesundheit der Menschen zu sichern oder wieder herzustellen. Das Finanzierungssystem über die gesetzlichen und privaten Krankenkassen sowie über die staatliche Heilfürsorge stellt grundsätzlich eine solide finanzielle Grundlage für die Gesundheitsversorgung dar. Insbesondere die paritätische Finanzierung der Versicherungen durch die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite greift die Prinzipien Solidarität und Subsidiarität aus der katholischen Soziallehre auf.
Als kontraproduktiv hat sich die Einführung der diagnosebasierten Fallpauschalen (DRG) gezeigt: aufgrund der Pauschalierung der gesamten Behandlungsvergütung kommt es zu Fehlanreizen, zur Schließung kleinerer Kliniken und damit zur Unterversorgung bei der Grundversorgung. Das DRG-System führt einerseits zu Personaleinsparungen, andererseits zum Rückzug der durch das System überlasteten Pflegepersonen.
Die Coronapandemie mit ihren Auswirkungen auf die Belegungszahlen der Krankenhäuser hat vor Augen geführt, dass das solidarische System der Finanzierung von Gesundheitsleistungen mitunter an seine Grenzen stößt. Ohne die staatlichen Zuschüsse aus Steuermitteln wäre die Pandemie nicht zu bewältigen gewesen. Außerdem führen neue Heilungschancen auf vielen Gebieten des Gesundheitswesens zur Frage, welche Therapien langfristig über die sozialen Sicherungssysteme finanzierbar sein werden. Allerdings stellen die Therapiekosten nur einen Teil der Kosten im Gesundheitswesen dar. Geburtshilfe, Rehabilitationsmaßnahmen und Palliativversorgung sind nur drei Beispiele, in denen das Gesundheitssystem auch in Zukunft zuverlässig leistungsfähig bleiben muss.
Es muss immer wieder neu geklärt werden, welche Behandlungsmethoden für welche Krankheiten sinnvoll sind und von der Allgemeinheit der Versicherten finanziert werden sollen. Daneben muss auch die Wirtschaftlichkeit von Einrichtungen des Gesundheitswesens immer wieder kritisch unter die Lupe genommen werden. Deswegen fordern wir im Blick auf mehr Transparenz und Überprüfbarkeit, regelmäßig auch die gesetzlich Versicherten über die Abrechnung ihrer Behandlungen zu informieren. Ebenso wichtig wird jedoch sein, die Entwicklungs-, Produktions- und Vertriebskosten von medizinischen Heilmitteln und Geräten bis hin zu Verbandsmaterial und Schutzausrüstung besser in den Griff zu bekommen und von preistreibenden Faktoren zu befreien. Schließlich regen wir an, die Leistungen der Pflegeberufe mit den ärztlichen Leistungen methodisch gleichzustellen und bestmöglich im Vergütungssystem abzubilden.
Aus der Sicht des Landeskomitees dürfen die Beiträge zu den Krankenversicherungen nicht unkontrolliert steigen. Der Ausgleich von Defiziten in den gesetzlichen Krankenkassen durch Steuermittel kann sinnvoll und nötig sein, muss jedoch im Einzelfall kritisch hinterfragt werden. Der vielfach ins Feld geführte Vorschlag, künftig alle Erwachsenen mit einer Beitragspflicht zu belegen, unabhängig von ihrem Status als Erwerbstätige, hat Vor- und Nachteile. So würden zwar alle privat Versicherten und Beamten beitragspflichtig, aber gleichzeitig auch anspruchsberechtigt. Das Heil in höheren Eigenbeteiligungen bei den Kosten zu suchen, würde zumindest teilweise die Abkehr vom Prinzip einer solidarischen Sozialversicherung bedeuten.
Gerade auf dem Gebiet der spezialisierten ambulanten und stationären Palliativversorgung (SAPV) einschließlich der Hospize braucht es Finanzierungssicherheit durch die Solidargemeinschaft. Hier dürfen Kostengesichtspunkte nicht im Vordergrund stehen. Auch Menschen mit chronischen und schweren Krankheitsverläufen müssen sich durch ein solidarisches Sicherungssystem aufgefangen wissen. Gleichzeitig sollte in allen Bereichen des Gesundheitswesens langfristig ein Versorgungsstandard angestrebt werden, der die jeweiligen Kosten rechtfertigt.
Gesunde Kommunikation
Eine wesentliche Voraussetzung für eine gute Balance von Kosten und Leistungen im Gesundheitswesen wird eine deutliche Stärkung von Präventionsmaßnahmen sein. Gesundheitsförderung, Prävention, Kuration und Rehabilitation sind wesentliche Bausteine einer optimierten Gesundheitspolitik. Deshalb regen wir eine konzertierte Aktion der verantwortlichen Akteure in Politik, Medizin, Pflege und Pharmaindustrie, aber auch in Bildung, Kultur und Sport an. Sie alle sollten hier an einem Strang ziehen.
Ziel einer solchen Aktion wäre es, dass Menschen sich wieder bewusster werden, wie sie einen gesunden Lebensstil pflegen können. Dadurch kann der Grundstein für eine solide körperliche und seelische Gesundheit bereits in der Kindheit gelegt werden, der bis ins hohe Erwachsenenalter tragfähig ist und so Erkrankungen verhindern kann. Resilienz – gepaart mit einer gewissen Leidensfähigkeit – kann dazu beitragen, unvermeidbare Krankheiten zu ertragen und möglichst auch wieder vollständig zu genesen.
Dazu braucht es die Einbeziehung von Kindertageseinrichtungen, Schulen und Hochschulen ebenso wie die von Betrieben, Sportvereinen und Erwachsenenbildungseinrichtungen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen dafür müssen von der Politik gesetzt werden. Das so genannte Healthcare-Management sollte im Gesundheitswesen etabliert und durch die wissenschaftliche Expertise kirchlicher Hochschulen mit deren Werteorientierung weiterentwickelt werden.
Das Wechselverhältnis von gesamtgesellschaftlicher und individueller Gesundheit wurde in der Coronapandemie teilweise nicht ausreichend kommuniziert, so dass etliche Maßnahmen zur Eindämmung nicht mehr nachvollziehbar waren – abgesehen davon, dass manche Schritte auch fachlichen Kriterien nicht genügten. Daraus sollten Lehren für künftige staatliche Maßnahmen bei Pandemien und generell im Zusammenhang von gesamtgesellschaftlicher und individueller Gesundheit gezogen werden: von Anfang an mehr auf alle Beteiligten im Bereich des Gesundheits- und Bildungswesens zugehen und sie in die Planung von Maßnahmen einbeziehen.
Wenn die Menschen wieder klarer ihre jeweilige Eigenverantwortung erkennen und diese verbinden mit dem Verantwortungsbewusstsein für die Gemeinschaft und das Gemeinwohl, kann Gesundheit und Resilienz nicht nur im Gesundheitswesen selbst, sondern in der Gesellschaft insgesamt Einzug halten. Das Gesundheitswesen braucht mehr Mensch und weniger Markt.
Von der Herbstvollversammlung am 13. November 2021 verabschiedet.
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