Stellungnahme der Vollversammlung am 26. November 2016 – Der Glaubwürdigkeitsverlust von Staat und Politik, von Wirtschaft, von Medien, von Kirche und von zahlreichen anderen Institutionen nimmt zum Teil bedrohliche Ausmaße an. Dafür gibt es komplexe Ursachen, die keineswegs nur in der Flüchtlingsbewegung zu suchen sind. Deshalb gilt es, den reichhaltigen Schatz der Demokratie, den sie für die Organisation eines Gemeinwesens und für die Freiheit jedes Einzelnen bietet, wieder neu zu entdecken.
Es ist uns dabei bewusst, dass es für die gegenwärtigen Herausforderungen und zukünftigen Entwicklungen keine einfachen Lösungen, wie sie insbesondere von einzelnen politischen Gruppierungen im letzten Jahr besonders häufig vertreten wurden, gibt.
Das Landeskomitee der Katholiken in Bayern befasste sich in den vergangenen drei Vollversammlungen intensiv mit dem Einsatz von Pfarrgemeinderäten, Verbänden und Initiativen für die Eine Welt, für den Frieden und für das Weltgemeinwohl. Vor dieser weltweiten Perspektive nehmen wir die Herausforderungen und Gefährdungen wahr, vor denen die freiheitliche Demokratie, wie wir sie in Deutschland und in den westlichen Industrienationen kennen, aktuell steht. Wir sehen die Demokratie eng verknüpft mit der Sozialen Marktwirtschaft trotz mancher Unzulänglichkeiten als die derzeit beste denkbare Staats- und Gesellschaftsform.
Demokratie lebt von sozioökonomischen Voraussetzungen und muss sie schaffen
Bis 2030 wird ein Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in Deutschland von rund 1 % bis 1,5 % pro Jahr und pro Kopf prognostiziert. Gleichzeitig könnte das Arbeitsvolumen um 0,5 % bis 0,7 % pro Jahr steigen. Das real verfügbare Einkommen pro Kopf wird zwar in Zukunft etwa in Höhe der Hälfte des BIP-Wachstums (ca. 0,5 bis 0,7 % pro Jahr) steigen. Damit werden künftige Generationen insgesamt wohlhabender sein als heutige. Aber die zunehmenden Einkommens- und Vermögensungleichheiten verschärfen die Spannungen zwischen wirtschaftlich Schwachen und Starken, Erben und Nichterben, Jungen und Alten, Familien und Kinderlosen, Erwerbstätigen und Erwerbslosen.1) Das innereuropäische Gefälle bei Produktivität, Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung wird wohl erhalten bleiben.
Durch die Globalisierung besteht die Gefahr, dass der Primat der Politik und damit die Demokratie insgesamt ausgehöhlt werden. Märkte sowie globale Unternehmen und Investoren könnten sich im Zuge dieser Entwicklung zunehmend sozialer und demokratischer Kontrolle und Willensbildung entziehen und zu demokratischer Apathie führen. Die Ausgleichs- und Befriedungsfunktion wirtschaftlichen Wachstums könnte sinken. Weiter steigende Einkommens- und Vermögenskonzentrationen bewirken Machtverteilungen, die die Arbeit der Parlamente und Regierungen zunehmend relativieren. Wir brauchen eine Politik, die nicht vor der Macht der Wirtschaft kapituliert.
Deshalb wird die Armutsbekämpfung bei wirtschaftlich Leistungsschwachen dringlicher, um eine gemeinsame Basis zu erhalten und Parallelgesellschaften besonders Wohlhabender zu vermeiden.
Wir brauchen eine lebendige Demokratie:
- die die Solidarität in der Gesellschaft deutlich stärkt;
- mit ausgeglichener Gruppenmacht und Interessenwahrnehmung mit starken Vertretungen besonders für „Stimmlose“, „Überhörte“, „Unsichtbare“ und „Überflüssige“, weil das Versprechen „wachsenden Wohlstandes für alle“ brüchiger wird;
- mit Unternehmen und Arbeitgebern, die Arbeiternehmerrechte, wie Mitbestimmung und tarifrechtliche Regelungen mittragen;
- mit einer Verteilung der Belastung nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und für eine gleichmäßige Teilhabe aller an der Wohlstandsentwicklung;
- mit Zugangs- und Nutzungschancen von Wohlstand und sozialer Sicherung für alle, mit dem konkreten Ziel, Einkommens- und Altersarmut, sowie Wohnungsnot zu bekämpfen;
- mit einer anderen Art der Wirtschaftsförderung zu Gunsten der Teilhabe von möglichst vielen an den wirtschaftlichen Gütern;
- mit Politikverantwortlichen, die eine gerechte Mitgestaltung auch für sozial und wirtschaftlich Benachteiligte ermöglichen;
- mit überzeugten, starken und international orientierten Demokraten, die internationale Wirtschafts- und Handelsverflechtungen beeinflussen können und wollen, zum Beispiel in der EU;
- die Bürgerbeteiligung an politischen Entscheidungen und mehr Bürgerdialog fördert und ernstnimmt.
Menschen bewegen sich – Demokratie bewegt sich
Demokratie ist Basis und Ausdruck einer offenen Gesellschaft und gehört zu Deutschland. Das erfordert zahlreiche öffentliche wie persönliche Voraussetzungen, nämlich aufgeklärte, gut informierte Bürger. Dazu braucht es eine unabhängige Presse, eine Kultur der Offenheit, der Meinungsfreiheit und -vielfalt sowie eine Unabhängigkeit von gruppenspezifischen Machtstrukturen, ohne Einschüchterung oder Unterdrückung.
Und dies muss bereits in den Familien gelebt werden. Politik muss den Mut aufbringen, demokratische Werte schon dort anzustreben, damit nicht Radikalität und Unfreiheit in privaten Räumen „eingeübt“ werden. Die Interessen von Kindern müssen besser beachtet werden: jedem Menschen gebührt die gleiche Achtung. Und die Eltern sind im Regelfall die besten Erzieher und Anwälte ihrer Kinder.
Wesentlicher Bestandteil unserer Demokratie ist die Achtung jedes Menschen, ob schwach, ob stark, ob vertraut oder fremd. Sie verpflichtet unser Gemeinwesen auf die Wahrung der Menschenwürde jedes Einzelnen. Dennoch dürfen und sollen wir für das Funktionieren einer Gesellschaft gemeinsame Grundlagen formulieren wie es das Grundgesetz vorgibt. Dazu gehören wegen der Achtung der Menschenwürde die Gleichberechtigung, die Freiheit bei der Wahl verschiedener Lebensmodelle und des Glaubens sowie die Toleranz eines mit den Menschenrechten übereinstimmenden Anders-Seins – trotz des Ziels, in einem als gemeinsam empfundenen Kultur- und Wertesystem zu leben.
Die Geltung eines gemeinsamen Rechts- und Sozialsystems ist zum Erhalt einer funktionie- renden freiheitlichen Demokratie unabdingbar. In Folge von gesellschaftlichen Veränderun- gen müssen wir uns offensiv mit daraus entstehenden Fragestellungen und Problemen aus- einandersetzen. Vermieden werden sollte die Gefahr einer kulturellen Zersplitterung, bei der einzelne Gruppen sich abgrenzen, häufig außerhalb demokratischer Strukturen agieren und versuchen, nur ihre Interessen durchzusetzen. Dazu ist eine ausreichende Basis einer ähnlichen kulturellen Orientierung nötig, zu der auch die Ablehnung totalitärer Staatsformen zählt.
Wir brauchen eine Zuwanderungspolitik, die jene konsequent berücksichtigt, die am dringendsten Schutz brauchen, die aber auch Belastungsgrenzen beachtet und die sich traut, eine Zuwanderung auch im Interesse der aktuellen demographischen Entwicklung unserer Gesellschaft mit deren kulturellen Grundstrukturen zu thematisieren, um Radikalisierung zu vermeiden. Ein aktives Eintreten für eine demokratische Grundüberzeugung ist Aufgabe der Parteien, Kirchen, Verbände und anderer Gruppierungen.
Ökologisch–soziale Herausforderungen weltweit annehmen
Neben der Freiheit war vor allem der Wohlstand der westlichen Demokratien Antriebsfeder für die Demokratisierungswelle nach dem Ende des Ost-Westkonflikts. Es stellt sich heute die Frage, warum die Demokratie weltweit an Strahlkraft verloren hat. Einer von vielen Gründen könnte die Gleichsetzung von Demokratie mit dem Kapitalismus und dem Westen sein. Es sind vor allem die westlichen Demokratien selbst, die durch die Dominanz selbstherrlich agierender Organisationen und Konzerne, durch neoliberales Wirtschaftsgebaren und egoistische Lebensstile den Glaubwürdigkeitsverlust der Demokratie verursacht haben.
In Zeiten der Globalisierung reicht es nicht aus, nur an das Gemeinwohl innerhalb eines Nationalstaates zu denken. Über alle Grenzen hinweg muss es den Demokratien gelingen, ihre Verantwortung für das gemeinsame Haus im Sinn des „Weltgemeinwohls“ wahrzunehmen.
Dazu gehören der umweltverträgliche Umgang mit der Natur, menschenwürdige Arbeitsbedingungen und gerechter Lohn. Nur wenn sich die Demokratien überzeugend für die natürlichen Lebensgrundlagen und für die soziale Sicherung aller Menschen einsetzen, wer- den sie wieder an Ausstrahlung gewinnen. Dies sehen wir in der Umsetzung einer globalen ökologisch-sozialen Marktwirtschaft am besten gewährleistet.
Medien und soziale Netzwerke verantwortungsbewusst einsetzen und nutzen
Freie und unabhängige Medien und der freie Meinungsaustausch auch über die sozialen Netzwerke sind wesentliche Grundpfeiler einer funktionierenden Demokratie und damit auch für die Ausübung von Religionsfreiheit. Medien- und Plattformanbieter tragen eine hohe Verantwortung, um den gesellschaftlichen Diskurs zu fördern und zu stärken. Soziale Netzwerke schaffen allerdings häufig nur Teilöffentlichkeiten mit selektiver Wahrnehmung oder bilden die Grundlage für sich selbst bestätigende Plattformen radikaler und hasserfüllter Minderheiten.
Sich gegen diese negativen Entwicklungen zu wappnen, setzt ein starkes demokratisches und an den Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft und an der Würde des Menschen ausgerichtetes Mediensystem voraus. Dabei kommt neben der Presse den öffentlich-rechtlichen und den privaten Rundfunksendern eine tragende Rolle zu. Sie können und sollen zum konstruktiven und integrativen Diskurs im Bereich von Kultur, Information, Bildung und Unterhaltung beitragen.
Das Landeskomitee wendet sich deshalb gegen jede ideologische Engführung und geistige Gleichschaltung der Medien, wie sie gegenwärtig in Ländern wie Ungarn, Polen, Russland oder der Türkei zu beobachten ist. Es wendet sich auch gegen Bewegungen wie Pegida und Parteien wie die AfD in Deutschland, die für sich ein Wahrheitsmonopol in Anspruch nehmen und dabei ein Zerrbild von Politik und Medien zeichnen, das zu Verdrossenheit, Intoleranz, Verleumdungen („Lügenpresse“) und schließlich zu einer Verrohung der Gesellschaft führt.
Größere Investitionen in die substantielle Entwicklung von differenzierten Inhalten sind dafür nötig, ebenso eine spürbarere inhaltliche Selbstverpflichtung, die sich gegen Vereinfachungen stellt. Notwendig sind deshalb Qualitätsmedien, die Argumente für die Vorzüge der Demokratie sowie differenzierte Beiträge und Programme für eine lebendige und bildende Debattenkultur liefern. Konflikte gehören zum Leben, und mit ihnen umgehen zu lernen, zählt zu den Aufgaben von Medien in einer Demokratie. Es braucht eine nachhaltige Unterstützung des vorhandenen öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seiner wichtigen Funktion für unsere Demokratie. Die Betreiber sozialer Netzwerke werden aufgefordert, im Wege einer Selbstverpflichtung gegen Aufrufe zu Hass und Gewalt im Netz vorzugehen.
Von den Gläubigen darf erwartet werden, sich mehr Medienkompetenz anzueignen, diese engagiert weiterzugeben und christliche Positionen über die Medien zu verbreiten. Dies soll als Chance und Möglichkeit gesehen werden, Anliegen, Gedanken und Zeugnisse des Glau- bens unter die Menschen zu bringen.
Mit politischer Bildung Demokratie stärken
Eine Demokratie, die das Gemeinwohl im Blick hat und die Würde jedes Einzelnen schützt und befördert, kann nur von informierten und verantwortungsbewussten Bürgern realisiert werden. Zentral ist dabei die Fähigkeit, sowohl für sich selbst zu denken als auch die Perspektive des anderen einzunehmen. Dazu gehören Kenntnisse über die Verfahren innerhalb einer parlamentarischen Demokratie und das Wissen über die soziale Realität.
Grundlagen für diese politische Bildung müssen in der Schulzeit fächerübergreifend gelegt werden. Dazu muss Zeit und Raum in der Schule vorgesehen werden. Bei der weiteren Schulentwicklung muss auf die Förderung der demokratischen Bildung verstärkt Wert gelegt werden. Diese Grundprinzipien müssen im Sinne eines ganzheitlichen Bildungsansatzes verinnerlicht und gelebt werden. Politische Bildung ist eine Aufgabe für jeden Einzelnen von uns. Dazu brauchen wir ein breit gefächertes Angebot.
Kirche und Staat – gemeinsam für Demokratie
Die katholische Kirche bewertet die freiheitliche Demokratie positiv. Sie hat beim Zweiten Vatikanischen Konzil ihr Verhältnis zum Staat in einer erneuerten Weise beschrieben: „In vollem Einklang mit der menschlichen Natur steht die Entwicklung von rechtlichen und politischen Strukturen, die ohne jede Diskriminierung allen Staatsbürgern immer mehr die tatsächliche Möglichkeit gibt, frei und aktiv teilzuhaben an der rechtlichen Grundlegung ihrer politischen Gemeinschaft, an der Leitung des politischen Geschehens, an der Festlegung des Betätigungsbereichs und des Zwecks der verschiedenen Institutionen und an der Wahl der Regierenden.“ (Zweites Vatikanisches Konzil, Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“, Nr. 75)
Daraus folgt, dass die katholischen Christen sich aktiv an den gesellschaftlichen Diskussio- nen und demokratischen Prozessen beteiligen und die Entscheidungen mitgestalten sollen. Das Landeskomitee ermutigt sie dazu, sich in Räten und kirchlichen Verbänden und in den Parteien, die christliche Werte vertreten, zu engagieren, deren Fortbildungen zu nutzen, um sich sachkundig an der Ausarbeitung neuer Lösungsansätze für aktuelle Problemanzeigen (zum Beispiel der Integration von Flüchtlingen oder der Anpassung der Renten- und Sozialsysteme an zukünftige Herausforderungen) zu beteiligen und sich als Mandatsträger aktiv für politische Entscheidungsgremien vom Gemeinderat bis zum Bundestag zur Verfügung zu stellen. Im politischen Vorfeld bietet es sich an, dass sich katholische Christen in lokalen Initiativen für konkrete, oft auch zeitlich befristete Aufgaben einbringen. Denn ein demokratisches Gemeinwesen bietet die Chance in der Teilhabe an der Entscheidung öffentlicher Fragen die Würde des Menschen zu sichern.
Von der Mitgliederversammlung des Landeskomitees der Katholiken in Bayern am 26. November 2016 in Würzburg mehrheitlich bei einer Gegenstimme beschlossen.

1) So kam es zum Beispiel zu einer Zunahme des Einkommensunterschiedes (Nettoäquivalenzeinkom- mens) zwischen den 10 % Einkommensschwächsten und 10 % Einkommensstärksten in Bayern von 2006 bis 2014 um 11 %.